Fake History? Unsichere Vergangenheits(re)konstruktionen auf Social Media

Fake History? Unsichere Vergangenheits(re)konstruktionen auf Social Media

Veranstalter
Dr. Martin Göllnitz (SFB/TRR 138 "Dynamiken der Sicherheit") / Dr. Paul Franke (Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Philipps-Universität Marburg) / Dr. Sarah Kirst (SFB/TRR 138 "Dynamiken der Sicherheit") / Janina Schwarz (Institut für Europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft, Philipps-Universität Marburg)
PLZ
35032
Ort
Marburg
Land
Deutschland
Findet statt
In Präsenz
Vom - Bis
14.11.2024 - 15.11.2024
Deadline
31.05.2024
Von
Martin Göllnitz, Sonderforschungsbereich / Transregio 138 "Dynamiken der Sicherheit", Philipps-Universität Marburg

Dass die Sorge vor "Fake History" nicht neu ist, zeigt ein Artikel des TIME Magazine aus dem Jahr 2014: "The Twitter war between historians and history-photo accounts has been going on for years – but now, as it becomes clearer than ever that inaccurate information floating around on Twitter can affect the course of world events, the battle has taken on new importance." Zehn Jahre später sind die Konfliktlinien komplizierter, der "Twitter War" unübersichtlicher geworden. Mit dem Bedeutungszuwachs sozialer Medien als Unterhaltungs-, Kommunikations- und Politplattformen und der Möglichkeit, Content mithilfe von KI zu produzieren, hat die sogenannte "Fake History" eine neue Dimension gewonnen.

Fake History? Unsichere Vergangenheits(re)konstruktionen auf Social Media

Thema des Workshops
Social Media User teilen zunehmend irreführend attribuierte Bilder und falsche oder aus dem Kontext gerissene Zitate auf Twitter, Instagram, YouTube und TikTok. Einzelne von ihnen erstellen vermeintlich historischen Content, der jeglicher wissenschaftlicher Grundlage entbehrt oder – mal mehr, mal weniger offensichtlich – gefälscht respektive auf problematische Weise modifiziert wurde. Eine selbstreferentielle Meme-Kultur, personal branding, technische Möglichkeiten sowie handfeste politische Interessen haben so einer digitalen "Fake History", die in Opposition zu akademischer, bildungsorientierter Geschichte steht, den Weg bereitet. Im Jahr 2023 sorgte ein solcher Fall von Fake History auch in den deutschen Medien für Schlagzeilen. Der SWR berichtete in seiner Sendung "Kultur" ausführlich über den Pass des Pharao Ramses II., der vermeintlich 1976 für die Verschiffung der Mumie nach Paris ausgestellt worden war. Den Reisepass gab es wirklich, doch das Bild, das weiterhin auf Social Media geteilt wird, ist nur eine künstlerische Darstellung des nicht öffentlich zugänglichen Dokuments. Doch weder der SWR noch die unzähligen Social Media User, die das Bild als authentische Abbildung teilen, stören sich an diesem Umstand.

Neben dem Problem der mal fahrlässigen, mal ökonomisch, politisch und strategisch motivierten Verzerrung historischer Inhalte ist das Phänomen der "Fake History" Teil einer Entwicklung, die gesellschafts- und wissenschaftspolitisch bedenklich ist: Seit Jahren trifft ein gesteigertes Interesse an Geschichte und historischen Inhalten auf ein abnehmendes Interesse am Geschichtsstudium und den akademisch-historischen Inhalten der Geschichtswissenschaft. Die Rolle, die Geschichte in der Öffentlichkeit, zur Unterhaltung und als Content auf Social Media spielt, steht im Kontrast zur akademischen Geschichtsforschung, die weltweit in der Krise steckt. Daher stellen sich die Fragen, ob unsere zunehmend digitalisierte Gesellschaft neue Zugänge zur Geschichte braucht und ob Fake History ein Bedürfnis befriedigt, das in der bisherigen Geschichtsvermittlung unberücksichtigt bleibt. Abseits etablierter akademischer Geschichtsdarstellung und -vermittlung werden auf Social Media fortwährend Vergangenheits(re)konstruktionen und Erinnerungskulturen verhandelt. Social Media User präsentieren mithilfe umstrittener Narrative oder Quellen vermeintlich "wahre" oder "authentische" Vergangenheitserzählungen. Künstliche Intelligenz und neuere Technologien spielen für diese Art der Geschichts(re)konstruktion eine wichtige Rolle.

Ein Beispiel dafür ist der Instagram-Kanal @ichbinsophiescholl. Anlässlich des 100. Geburtstags von Sophie Scholl holten SWR und BR die Widerstandskämpferin aus den Geschichtsbüchern auf das Smartphone. Mittels Instagram sollten die Betrachter:innen die letzten zehn Monate der 21-jährigen Sophie Scholl, gespielt von Luna Wedler, hautnah, emotional und in nachempfundener Echtzeit erleben. Journalist:innen und Historiker:innen diskutierten das Projekt allerdings kontrovers, gerade weil die historische Fiktion im Zentrum des Instagram-Kanals stand. Der Übergang zwischen historischem Medienprojekt, narrativer Erinnerungskultur und "Fake History" (Stichwort: Social Media in einer totalitären Diktatur) war fließend.

Ziel des Workshops ist es, diese fluiden Grenzen zu thematisieren und dabei die vielseitige Rolle sozialer Medien offen zu diskutieren. Denn eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Vergangenheitserzählungen auf den Social Media Plattformen ist nicht unproblematisch. Das Interesse an Geschichte im Social Web ist extrem groß und kann Forscher:innen schnell überwältigen (allein der Hashtag #History hat auf TikTok über 82 Milliarden Aufrufe). Die kritische Auseinandersetzung mit "Fake History" ist daher mehr als die Frage nach wissenschaftlicher Genauigkeit oder Korrektheit. Sie bildet einen wichtigen Bestandteil der politischen Diskussion um gezielte Desinformationen, die (Re)Produktion gesellschaftlicher Unsicherheit, die Ökonomisierung und Ver-meme-ung von Wissenschaft und Bildung.

Ziel des Workshops
Der Workshop will interdisziplinär Forschende, Medienschaffende, Content Creators und andere Expert:innen zusammenbringen. Mögliche Zugänge erstrecken sich über Public History und Geschichtswissenschaft, Bildungspolitik und Erinnerungskultur, Rezeptions- und Erinnerungsgeschichte, Medienwissenschaften und Journalismus bis hin zu eigenen Erfahrungen als Content Creatoren und Influencer:innen. Neben fachlichem Austausch über Gefahren, Formen und mögliche Auseinandersetzungen mit Fake History auf Social Media soll es darum gehen, diese Debatte in breitere Kontexte einzubetten. Wir freuen uns daher über Beiträge zu folgenden Fragen:

1) Formen und Narrative: Lässt sich das Phänomen der "Fake History" einordnen und können Fallbeispiele Auskunft über generelle Trends dieser Form der gefälschten Vergangenheits(re)konstruktion geben? Welcher (populären) Narrative bedient sich die "Fake History", wie werden diese verbreitet und haben Meme-Formate Einfluss auf deren Verbreitung? Weiterhin ist danach zu fragen, ob auf Social Media spezifische Narrative kursieren und ob diese vielleicht sogar Überschneidungen zu den etablieren Darstellungen der akademischen Geschichtswissenschaft aufweisen?

2) Was ist „fake“ und was ist „authentisch“: Eignen sich Kategorien wie „wahr“ und „falsch“, „fake“ und „authentisch“ überhaupt dafür, die Konstruktion von Vergangenheit in den sozialen Medien zu klassifizieren und zu untersuchen bzw. Geschichte im Social Web darzustellen und zu vermitteln? Welche Formen der Wissensproduktion werden als Autoritäten wahrgenommen? Wie wirkt sich "Fake History" auf die gesellschaftspolitischen Debatten um eine zeitgemäße, medial ansprechende Erinnerungskultur aus und wo liegen die Grenzen zum Histotainment?

3) Medien und Technologien: Wie fördern Oberflächen, Interfaces und Algorithmen die Perpetuierung von "Fake History"? Inwiefern beeinflussen verschiedene Faktoren wie Kommerzialisierung (Add-Revenue, Patreon), Algorithmus und Sponsoring die Verbreitung bzw. Aufbereitung von (gefälschten) historischen Inhalten auf Social Media?

4) Digital Humanities, "Fake History" und "What's New?": Mit Blick auf die etablierte Debatte um Erinnerungskultur und -politik im Bereich der Public History stellt sich die Frage, was das Neue an den Herausforderungen, Chancen und Probleme einer Geschichte im Social Web ist. Verändern die technischen Möglichkeiten und digitalen Methoden der sozialen Medien unsere gesellschaftlichen Diskurse in Bezug auf die Darstellung und Vermittlung von Vergangenheit in Schulen, Universitäten, Öffentlichkeit?

Neben dem klassischen Panel-Format streben wir Formate an, die eine offene Diskussion in den Fokus rücken. Die Einreichung von kreativen Beiträgen abseits des traditionellen Papers wird daher ebenso ausdrücklich begrüßt wie die Bewerbung von Medienschaffenden, Content Creators und bildungspolitisch Aktiven.

Bewerbung
Vorschläge mit Erläuterung von Thema, Relevanz, empirischer Grundlage und methodischem Zugang nehmen wir in Form eines Abstracts (max. 500 Wörter) sowie einer Kurzvita zur eigenen Person in einem PDF-Dokument bis zum 31. Mai 2024 per E-Mail an sfbevent@uni-marburg.de entgegen. Die Rückmeldung über die Annahme des Papers erfolgen voraussichtlich Mitte Juni 2024. Konferenzsprachen sind Deutsch und Englisch. Vorbehaltlich der Mittelbewilligung erstatten wir in begrenztem Umfang Reise- und Übernachtungskosten. Im Anschluss an den Workshop streben wir eine Veröffentlichung an.

Kontakt

sfbevent@uni-marburg.de